Zeichnung im Raum, Volumen in der Fläche – unter dieser Devise könnte man das bisherige bildhauerische und zeichnerische Schaffen von Sigrun Ólafsdóttir zusammenfassen. Die Künstlerin arbeitet mit zwei Medien, die in ihrer Wesensart und ihrer Erscheinungsform ganz unterschiedlich zu sein scheinen: mit der Skulptur und mit der Zeichnung.Skulptur, das meint Volumen, Raum, Materie, Schwere - Zeichnung, das meint Fläche, Linearität, Leichtigkeit. Die Künstlerin setzt aber beides in ein wahlverwandschaftliches Verhältnis und schafft damit zugleich Neues: Skulptur wird und wirkt oftmals leicht und transparent, Zeichnung nicht selten schwer und kompakt. Dabei ist Sigrun Ólafsdóttirs künstlerischer Ansatz keineswegs brandneu, er steht durchaus in einer Tradition. Denn schon lange arbeiten insbesondere Bildhauer mit dem zweidimensionalen Medium der Zeichnung, das oftmals – etwa als Entwurf, als Skizze - eine dienende, die dreidimensionale Arbeit vorbereitende Funktion einnimmt. Was aber das Besondere in ihrem künstlerischen Konzept ist (und auch da steht sie eigentlich bereits auch schon wieder in einer gewissen Tradition) ist die Autonomisierung der Zeichnung, also die Loslösung vom reinen Entwurfscharakter..
Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Wertigkeit, welche die Künstlerin selbst der Zeichnung beimisst. Denn Zeichnung ist nicht gleich Zeichnung, und in ihrer Konnotation als visuelles Medium ist sie äußerst facettenreich und geschichtsträchtig – bildet sie doch den historischen Anfang und die elementare Grundlage aller Bildnerei. Als „Urform aller Flächenkunst“ gebührt ihr nicht nur eine Sonderstellung innerhalb der bildenden Künste, sondern sie existiert auch unabhängig von deren engerem Kunstanspruch. Im Grunde lässt sie sich, neben ihrer künstlerischen Dimensionierung, als eines der elementaren Ausdrucksmittel des Menschen bezeichnen, indem sie selbst in Alltagsbelangen als Sprach- und Arbeitsinstrument dienen kann. Diese anthropologische Dimension der Zeichnung basiert auf zwei fundamentalen Umständen: Zum einen versteht sich die Zeichnung als der schnellste und unmittelbarste Weg der Formerfassung, zum anderen vermag sie auch auf einer unentwickelten Stufe ihren Zweck als Kommunikationsmittel und Orientierungshilfe erfüllen. Denken wir nur an die Kinderzeichnung im Vorschulalter in ihrer Funktion als nonverbaler Sprachform, an die Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux, an die rituellen Zwecken dienenden Ritzzeichnungen der Naturvölker, an mittelalterliche Grundrisse (etwa der Plan des Klosters von St. Gallen) oder auch, um wieder in den Alltagsbereich zurückzukehren, an Wegeskizzen, an Ikea-Bauanleitungen oder an Karikaturen und Piktogramme.
Ein weiteres Merkmal der Zeichnung liegt in ihrer Funktion als Entwurfsskizze, ohne dabei einen eigenständigen künstlerischen Anspruch geltend machen zu wollen. So standen in der abendländischen Kunst Entwurf und Ausführung eines Kunstwerks in einem höchst unproportionalen Verhältnis zueinander. Es gab zwar in der Buch- und Wandmalerei die Vorzeichnung, doch diese verstand sich in erster Linie als eine handwerkliche Hilfe, sie war vorbereitender (und zugleich untergeordneter) Teil eines Ganzen, Zeichnung und Malerei waren nur zwei Phasen ein und desselben Vorgangs. Erst während der Renaissance begann sie sich aus diesem rein utilitaristischen Zweckverband zu lösen; in Italien verselbständigte sich die Künstlerzeichnung mit Meistern wie Gentile da Fabriano, Lorenzo Ghiberti, Raffael oder Leonardo da Vinci, im Europa nördlich der Alpen setzten Künstler wie Albrecht Dürer, Albrecht Altdorfer oder Wolf Huber neue Maßstäbe, indem sie die Landschafts- und Bildniszeichnungen aus ihren bislang dienenden Aufgaben befreite. Seit dieser Zeit kennen wir die Doppelnatur der Künstlerzeichnung: als zweckgerichteter Entwurf zum einen und als grafisch reduzierte Bildidee zum anderen.
Seit dem 20. Jahrhundert existiert darüber hinaus die autonome Bildhauerzeichnung, also eine vom Bildhauer angefertigte Zeichnung, die sich nicht als Entwurf für ein dreidimensionales Werk versteht. Wir denken etwa an Henry Moore, an Richard Serra oder auch an Alf Lechner, die jeweils ein eigenwertiges und eigenständiges zeichnerisches Werk geschaffen haben. Wobei die Grenzen hier durchaus fließend sein können, wenn sich Entwurfsgedanke und autonomer Charakter miteinander verzahnen, wenn Skizze und skulptural gedachte künstlerische Reflexion in eine Symbiose treten. Letztlich setzt auch der bewusste Willensakt des Kunstschaffenden die Maßstäbe, als was er sein Artefakt einschätzt. Und es hängt auch nicht zuletzt vom Rezipienten ab, inwieweit er diesen Vorschlag akzeptiert – denn eine eindeutige Festlegung der „autonomen Bildhauerzeichnung“ gibt es im Grunde nicht.
Genauso wenig wie es zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine klare und eindeutige Definition von „Zeichnung“ gibt. Eine Zeichnung muss nicht unbedingt kleinformatig sein, sie muss nicht auf Papier gefertigt, sie muss nicht ausschließlich mit Stift, Feder oder Kreide aufgetragen sein. Sie kann auch großformatig sein, sie kann, statt auf Papier oder Karton, auch auf Baumwolle aufgetragen sein, und sie kann, wie in den neueren Arbeiten von Sigrun Ólafsdóttir, mit Tusche und Gesso (Kreidegrund) ausgeführt, also auch durchaus malerischen Charakters sein.
Es ist wichtig, das zeichnerische Werk der Künstlerin unter diesen beiden Aspekten der Autonomisierung und der technischen Ausführung zu analysieren (wobei wir die Terminologie der Bildhauerzeichnung im folgenden beibehalten wollen). Betrachtet man die Zeichnungen im Überblick, so lassen sich drei Gruppen herauskristallisieren, die zugleich auch prototypisch den künstlerischen Werdegang markieren: die sogenannten „Körbe“ als erste Phase, dann die „Linien bzw. Berührungen“ und schließlich die „Windungen bzw. Bänder“ als die jüngste und aktuelle Werkphase. In der Gruppe der „Körbe“, zwischen 1995 und 1997 entstanden, offenbart sich ein durchaus „klassisch“ anmutendes bildhauerisches Denken. Die mit Tusche und Leinöl ausgeführten, meist im Format 40 x 50 cm gehaltenen Papierarbeiten sprechen noch unverkennbar die Sprache dreidimensionalen, plastischen Denkens - zwar nicht im Sinne einer Vorstudie, doch verstehen sie sich als in der Zweidimensionalität angelegte Artefakte, deren zentrales Thema die Darstellung der räumlichen Form, des Volumens bildet. Signifikant für diese Gruppe ist die Darstellung mittels der oftmals fein gesetzten Linie und die Bevorzugung der runden Form. Letztlich muten die Zeichnungen – auch wenn sie durchaus autonomen Charakters sind – wie auf die Fläche verlagerte Raumkörper an, wobei das Bildgeschehen in der Form eines zentralen Darstellungsgegenstands in der Regel eindeutig zu orten ist.
Dieses ändert sich dann grundlegend in der nächsten, etwa im Jahre 1997 parallel zum plastischen Schaffen einsetzenden Werkgruppe der „Linien“ bzw. der „Berührungen“. Auch bei diesen Arbeiten ist das kleine Format vorherrschend, ebenso wie für die Ausführung Tusche und Leinöl verwendet werden. Neuartig in den Zeichnungen dieser Werkphase, die die Künstlerin im übrigen bis auf den heutigen Tag fortsetzt, ist eine Reduzierung der gestalterischen Mittel. Oftmals sind es nur zwei sich annähernde oder überschneidende Linienverläufe, mitunter von kreuz- oder kreisförmigen Flächenkompartimenten hinterlegt, welche die in ihrer Binnenstruktur großzügig angeordneten Kompositionen bestimmen. Zurückhaltend wirkt auch die Farbigkeit, die sich auf delikat gesetzte Schwarz- und Gelbtöne beschränkt. Überraschend und für eine im Sinne der Bildhauerei argumentierende Künstlerin bemerkenswert ist aber auf jeden Fall die Rücknahme einer jeglichen Räumlichkeit: Die Zeichnungen sind stets flächig angelegt, die dritte Dimension wird bewusst negiert.
Zu einer Synthese der in den beiden Werkgruppen beschriebenen Auffassungen findet Sigrun Ólafsdóttir dann in ihre aktuellen Serie der „Windungen“ oder „Balken“, die zugleich für ein geändertes künstlerisches Konzept stehen. In all diesen Arbeiten wird die Trennung zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Raum und Fläche, zwischen Skulptur und Zeichnung im Grunde obsolet - zumal die Künstlerin hier die Grenze die Grenze zwischen Malerei und Zeichnung weitestgehend überschreitet. Die auf Baumwolle (also auf Leinwand!) ausgeführten Arbeiten treten oftmals in Formaten von 100 x 200 cm oder von 180 x 180 cm in Erscheinung, und es eignet ihnen ein unverkennbarer malerischer Charakter. Zugleich kommt es zu einer Reduzierung der gestalterischen Elemente: Bildkonstituierend sind jeweils breit angelegte und durch feine Lineaturen ausdifferenzierte Bänder, die wie frei im Raum zu schweben scheinen und die einer jeglichen Schwerkraft entzogen sind. Die geschwungenen Bänder oder Balken verlaufen in Gruppen, sie überlagern und überschneiden sich, manchmal sind sie durchscheinend und luftig, manchmal pastos und kraftvoll, sie haben keine Begrenzung, sie setzen sich stets außerhalb des Bildgevierts fort. All diese Arbeiten, die ihre Analogien im plastischen Schaffen der Künstlerin haben, kreieren eine virtuelle Räumlichkeit, die sich einer gängigen Kategorisierung entzieht. Ähnlich etwa den Bildern des tschechischen Malers Zdenek Sýkora mit ihren Überlagerungen und Überschneidungen von farbigen Linienverläufen oder den aus oftmals „außerkünstlerischen“ Materialien wie Klebebändern, Wollfäden oder Gummis komponierten Artefakte des Schweizer Künstlers Beat Zoderer kommt es in den Zeichnungen Sigrun Ólafsdóttirs zu einer Tiefenräumlichkeit, die sich einer eindeutigen Lesbarkeit verweigert. Bewusst setzt die Künstlerin auf eine reduzierte, in die Monochromie verweisende Farbgebung, meist in Braun-, Grau- und Schwarztönen gehalten, ein Stilmittel, das den Bildern eine zusätzliche Delikatesse verleiht. Die Künstlerin entwirft ganz eigenwillige und letztlich nicht auslotbare Bildräume, die als eine zeitgenössische Variante – und der Vergleich sei an dieser Stelle durchaus erlaubt – der imaginären, ein irrationales System unbeschreitbarer Innenräume beschreibenden Architekturprospekte der „Carceri d’ Invenzione“ von Giovanni Battista Piranesi aus dem Jahre 1745 erscheinen mögen.
Charakteristisch für alle drei Werkgruppen ist die Gestaltung mittels der Linie und die Bevorzugung der runden Form, wobei in den jüngsten Zeichnungen auch gerade Balken in Erscheinung treten. Die Dominanz des runden bzw. geschwungenen Verlaufs liegt im konzeptuellen Ansatz der Kunst von Sigrun Ólafsdóttir begründet: Mit runden und ovalen Formen assoziiert sie die Kugel und den Kreis, die Sonne und das Ei, als Spender jeglichen Seins und Werdens und. Die Erde ist eine Kugel, im Zustand der Schwerelosigkeit bilden Flüssigkeiten eine Kreisform, die stellaren Systeme sind spiralförmig und Energie entwickelt sich immer in konzentrischen Kreisen. Rund steht für Kreation, für Wärme, für Geborgenheit, für Harmonie – und zugleich als Symbol für ständige Wiederkehr und Erneuerung.
Stets handeln die künstlerischen Systeme Sigrun Ólafsdóttirs, sowohl in der Plastik als auch in der Zeichnung, vom Gleichgewicht in der Bewegung, vom Ausbalancieren gegensätzlicher Prinzipien, von der Synthese von Statik und Dynamik. So wie nicht wenige ihrer Skulpturen aus dem Gleichgewicht geraten scheinen, aber dennoch standhaft bleiben, so geben sich auch in den Zeichnungen die einzelnen Bildelemente gegenseitigen Halt. Zweifellos eignet allen zweidimensionalen Arbeiten ein hohes Maß an Ausgewogenheit und Kontemplation, in ihnen halten sich rationales Kalkül einerseits und schöpferische Phantasie andererseits gleichermaßen die Balance. Wollte sie man nach ihrer „tieferen“ Bedeutung fragen, so täte man ihnen unrecht; denn sie sind insofern auch autonome, d.h. eigenständige Werke, als sie ohne eine hintergründige Philosophie, ohne eine Weltanschauung, einen utopischen Entwurf oder gar eine konkrete Handlungsanweisung auskommen. Sie folgen eher ihrer eigenen, von äußeren Faktoren unabhängigen inneren Systematik, sie genügen sich selbst, sie sind das Problem und die Lösung zugleich.
Von allen Zeichnungen geht eine starke ästhetische Präsenz aus, die unverkennbar in der Klarheit und der Sparsamkeit der verwendeten gestalterischen Mitteln liegt. Mit oftmals nur wenigen Kompositionselementen entstehen Bildräume, die von einer spannungsreichen Dynamik einerseits und einer beinahe meditativen Ruhe andererseits gekennzeichnet sind. Das den Arbeiten zugrundeliegende System, ihr innerer und äußerer Aufbau, gibt sich nicht immer sofort zu erkennen – doch dieses zu ergründen und somit dem künstlerischen Herstellungsprozess gedanklich zu folgen, macht, neben der rein ästhetischen Wirkung, den besonderen Reiz der Zeichnungen von Sigrun Ólafsdóttir aus.
Richard W. Gassen